Studienbibeln und der Missionsbefehl
von John MacArthur
Ein Mann bemerkte meine Studienbibel, deutete auf den Buchrücken und sagte: „Das ist aber ein eigenartiger Titel.“ Ich war einen Augenblick lang sprachlos, weil ich nicht wusste, was er meinte. „Ich meine nicht den Begriff Bibel“, setzte er fort. „Der Begriff ist mir bekannt. Aber auf allen Bibeln, die ich bisher gesehen habe, steht ‚Heilige Schrift‘. Ich verstehe, was damit gemeint ist. Aber mit dem Wort Studienbibel kann ich nichts anfangen.“
Ich erklärte ihm, dass es sich um eine Bibelausgabe handelt, die Erklärungen enthält, um dem Leser zu helfen, die Begriffe, Gedanken Zusammenhänge und allgemeine Aussagen des Textes besser zu verstehen, und dass eine Studienbibel zu diesem Zweck zahlreiche Fußnoten, Landkarten, Definitionen, Hintergrundinformationen und andere Studienhilfen enthält. Mein Gesprächspartner sah immer noch verwirrt aus, und daher bot ich ihm an, ihm ein Exemplar zu schenken, was er dankbar akzeptierte. Die Vorstellung, dass man sich sorgfältig und systematisch mit der Bedeutung der Bibel auseinandersetzt, war für diesen Mann vollkommen fremd. In seinen Augen war die Bibel so etwas wie ein heiliges Relikt oder ein Frömmigkeitssymbol.
Der Gedanke, die Schrift ohne akademische Bildung systematisch zu studieren ist für viele Menschen ungewohnt. Sie betrachten die Bibel als mystisches Buch, als Quelle von Gedanken für den Tag, als Handbuch für kirchliche Würdenträger oder als Gegenstand, den man bei gottesdienstlichen Handlungen mit sich herumträgt. Wenn sie die Bibel überhaupt lesen, dann tun sie das allenfalls, um die poetische Ausdrucksweise zu bewundern, oder sie lesen die Geschichten so, als handelte es sich dabei um Mythologie, oder sie wählen nach dem Zufallsprinzip einen Vers für den Tag aus, so als würden sie ein Horoskop lesen.
Selbst viele Menschen, die sich als überzeugte Evangelikale betrachten, unterziehen sich nie wirklich der Mühe eines sorgfältigen Studiums der Schrift. Vor 25 Jahren führten George Gallup und Jim Castelli eine Umfrage durch, um zu ermitteln, wie gut die Menschen die Bibel kannten. Sie stellten fest, dass Amerikaner
„die Bibel respektieren, aber sie nicht lesen. Und weil sie die Bibel nicht lesen, sind sie zu biblischen Analphabeten geworden.“
Diese Situation hat sich seither nur noch verschlimmert. Trotz (oder wahrscheinlich wegen) der Informationsflut, die uns durch die Medien und das Internet zur Verfügung steht, weiß unsere Generation kaum mehr, was studieren bedeutet. Wir können jedes beliebige Thema googeln oder einen kurzen Absatz darüber auf Wikipedia lesen und bilden uns deswegen ein, dass wir besser informiert sind als alle Generationen vor uns. Doch dieses Wissen ist oberflächlich, und die Aufmerksamkeitsspannen der heutigen Menschen sind kürzer als je zuvor.
Dieser Trend ist nirgendwo deutlicher zu sehen als im Bereich unserer Bibelkenntnis. Laien, die echte, ernsthafte Studenten der Schrift sind, sind sehr selten geworden. Selbst unter jenen, die sich als bibelgläubige Evangelikale betrachten, nehmen nur wenige jene Pflicht ernst, die Paulus im Zweiten Timotheusbrief 2,15 beschreibt: „Strebe eifrig danach, dich Gott als bewährt zu erweisen, als einen Arbeiter, der sich nicht zu schämen braucht, der das Wort der Wahrheit recht teilt.“ (Hervorhebung durch mich). Das griechische Verb, das hier mit streben übersetzt wurde, bedeutet auch „fleißig sein“. Die Stelle ruft uns also nicht zu einer gelegentlichen Neugier auf, sondern zu einer sorgfältigen, aufmerksamen und gewissenhaften Beschäftigung mit dem Wort Gottes.
Wenn wir diese Pflicht vernachlässigen, dann missachten wir den Missionsbefehl, den letzten und wichtigsten Auftrag, den Jesus Seinen Jüngern gab. Beachten wir, was dieser Auftrag alles umfasst:
„So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Weltzeit!“ (Matthäus 28,19-20)
Christen verstehen unter dem Missionsbefehl meist einen Auftrag zur Evangelisation. Das ist er auch, doch die Art und Weise, wie Jesus diesen Auftrag beschreibt, hat nichts mit dem oberflächlichen, schnellen „Seelengewinnen“ zu tun, das unter heutigen Christen populär ist. Jesus betonte die Wichtigkeit des Lehrens. Im griechischen Text steht nicht das Verb hingehen im Vordergrund, sondern die wörtliche Übersetzung des Satzes lautet: „Hingegangen seiend macht alle Nationen zu Jüngern“. Im darauffolgenden Satzteil wiederholt Jesus diesen Befehl auf eine Art und Weise, die den didaktischen Aspekt Seiner Anweisung unmissverständlich macht: „… lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe“.
Es handelt sich um eine gewaltige Aufgabe, die sich auf „alle Nationen“ erstreckt, eine gründliche Kenntnis aller Lehren und Gebote Christi erfordert und bis zum „Ende des Zeitalters“ dauern soll. Ein solcher Auftrag muss für alle Christen aller Jahrhunderte gelten, da er unmöglich von den elf Jüngern erfüllt werden konnte, die in Matthäus 28,16 erwähnt werden. Außerdem enthält die Schrift Anhaltspunkte dafür, dass eine große Schar von Jüngern anwesend war, als Jesus diese Worte sprach.
Einer dieser Anhaltspunkte sind die folgenden Worte Jesu am Morgen nach Seiner Auferstehung: „Fürchtet euch nicht! Geht hin, verkündet meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen sollen; dort werden sie mich sehen!“ (Matthäus 28,10). Damit meinte Er nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) Seine leiblichen Brüder, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gläubig waren (vgl. Johannes 7,5). Die „Brüder“, von denen er sprach, waren Seine Jünger, die aus Galiläa, Judäa und den angrenzenden Gebieten stammten. „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“ fragte Jesus in Matthäus 12,48. Und Er beantwortet diese Frage sofort: „Denn wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter!“(Vers 50; vgl. Matthäus 25,40.45). Mit anderen Worten: Mit den „Brüdern“, die sich zur Begegnung mit ihrem auferstandenen Herrn in Galiläa einfinden sollten, waren alle Gläubigen aus der gesamten Umgebung gemeint.
Für Jesus hätte es sonst keinen Grund gegeben, nach Galiläa zu gehen. Hätte Er sich nur mit den elf Jüngern treffen wollen, dann hätte Er dies in Jerusalem tun können, wo sich die Elf befanden, als Jesus von den Toten auferstand. 40 Tage später, am Pfingstfest, versammelten sich am gleichen Ort 120 Gläubige.
Ein großer Teil des öffentlichen Dienstes Jesus fand in Galiläa statt. Dort lebten die meisten seiner Nachfolger, und das war wohl der Hauptgrund dafür, weshalb Jesus einen Berg in Galiläa wählte, um Seinen Jüngern zu erscheinen. Alles weist darauf hin, dass eine große Schar Seiner Jünger auf diesem Berg versammelt war, als Jesus den Missionsbefehl erteilte. Möglicherweise handelte es sich dabei um jene Versammlung, die Paulus im Ersten Korintherbrief 15,6 erwähnt: „Er erschien mehr als 500 Brüdern auf einmal“. Kein anderer Zeitpunkt in der Ereignisabfolge nach der Auferstehung eignet sich für die Beantwortung der Frage, wann und wo Jesus 500 Personen auf einmal erschien.
Der Missionsbefehl gilt nicht nur den elf Jüngern und beschränkt sich auch nicht auf die große Versammlung Seiner Nachfolger auf dem Berg in Galiläa. Er ruft alle Christen aller Jahrhunderte zu einem intensiven, langfristigen, tiefgehenden Studium all dessen auf, was uns Christus aufgetragen hat. Und die einzige unfehlbare Quelle der Lehren Christi ist die Schrift. Die Lehre über Ihn ist nicht nur in den Evangelien zu finden, sondern auch im Gesetz des Mose, den Propheten und den Psalmen (Lukas 24,44). Christus ist das Hauptthema der gesamten Schrift (Vers 27).
Es ist die Pflicht jedes Christen, die Schrift zu studieren und zu lehren. Das geht aus dem Missionsbefehl klar und deutlich hervor. Damit wir den Auftrag Christi befolgen können, die Nationen zu Jüngern zu machen, müssen alle Gläubigen – nicht nur die Pastoren und Gemeindeleiter – „Lehrer sein“ (vgl. Hebräer 5,12). Es ist ein Zeichen geistlicher Unreife, wenn wir „im Wort der Gerechtigkeit unerfahren“ sind (Vers 13).
Egal wer du bist, du kannst jemanden finden und lehren, der weniger über Christus weiß als du. Wenn du nicht aktiv andere zu Jüngern machst, sofern du Gelegenheit dazu hast, dann bist du dem Missionsbefehl nicht gehorsam.
Was können wir tun, um wieder auf den richtigen Weg zu gelangen? In den frühen Jahren der protestantischen Reformation standen die Gläubigen vor einem ähnlichen Dilemma. Aufgrund des Würgegriffs der mittelalterlichen römisch-katholischen Kirche, die den Menschen den Zugang zur Schrift versperrt hatte, war der biblische Analphabetismus weit verbreitet, und Bibeln waren sowohl selten als auch unerschwinglich teuer. Die erste erschwingliche englische Bibelausgabe war die Geneva Bible. Es handelte sich um eine Studienbibel mit zahlreichen Anmerkungen, Parallelstellen und anderen Hilfen, die in erster Linie nicht für die akademische Elite, sondern für den Laien gedacht waren.
Die Geneva Bible stellte die Welt buchstäblich auf den Kopf. Sie entfachte die Flammen der Reformation in der englischsprachigen Welt, wurde zum Anlass für die Verkündigung des Evangeliums und war der Katalysator für die puritanischen Bewegung, der wahrscheinlich gewaltigsten Explosion von Bibelkenntnis, textbezogener Predigt und authentischer christlicher Frömmigkeit seit den Tagen der Apostel.
Eine gute Studienbibel ist aus meiner Sicht das beste und benutzerfreundlichste Werkzeug für den Laien, der eine ausführliche Kenntnis der Schrift erlangen und dafür ausgerüstet werden will, andere zu Jüngern zu machen.
Ich verbrachte einige der fruchtbarsten Jahre meines Dienstes damit, die Anmerkungen für eine Studienbibel zu verfassen, die seither bei der Ausbildung zahlloser Jünger zum Einsatz kam. In den letzten Jahren wurden wir mit einer Fülle hervorragender und brauchbarer Studienbibeln gesegnet. Meine Bitte an Gott ist, dass die Christen intensiven Gebrauch von diesen Werkzeugen machen. Mögen wir eine Erweckung ernsthafter, verständiger Jüngerschaft erleben, während wir gemeinsam daran arbeiten, den Missionsbefehl unseres Herrn auszuführen.
Dr. John MacArthur ist Pastor der Grace Community Church in Sun Valley, Kalifornien (USA). Er ist der Autor und Mitautor zahlreicher Bücher, einschließlich der MacArthur Studienbibel. Original Artikel Study Bibles and the Great Commission (http://bit.ly/2qVkfRQ), © 2015 by John MacArthur, Ligionier Ministries (http://www.ligonier.org).
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