Auszug aus dem Buch “Growth Groups” von Colin Marshall (Kingsford NSW, Australia: Matthias Media, 1995), S. 31-42.
Eines der Ziele, das wir uns mit diesem Artikel setzen, ist die praktische Ausbildung für die Vorbereitung eines Bibelstudiums von Grund auf. Wir wollen dir zeigen, wie man ohne Hilfsmittel an einen Bibeltext herangeht und eine Diskussion über das plant, was uns dieser Teil des Wortes Gottes lehrt.
Grundsätze für die Vorbereitung eines Bibelstudiums
Das Wesen der Bibel: Gottes Wort durch menschliche Autoren
Die Grundsätze, die wir bei der Interpretation der Bibel anwenden, beruhen auf unserem Bibelverständnis: Wir glauben, dass die Bibel das Wort Gottes ist und an uns durch menschliche Autoren weiter gegeben wurde. Und weil sie das durch Gottes Geist inspirierte Wort Gottes ist, müssen wir darum beten, dass wir sie auch verstehen. Unser Verständnis und wie wir auf die Bibel reagieren, ist zunächst einmal ein Werk Gottes in uns. Da aber Gott menschliche Autoren benützt hat, ist die Methode, die wir beim Bibelstudium anwenden, die gleiche wie bei anderen literarischen Texten.
Abgesehen davon, dass wir die biblische Botschaft vermitteln wollen, sollen die Studien, die wir vorbereiten, auch aufzeigen, was für die Auslegung der Bibel die richtige Vorgangsweise ist.
Das Wesen des Lernens: Vom Ganzen zu den Einzelheiten und wieder zum Ganzen
Bei jedem Lernprozess empfiehlt es sich, dass wir uns vor dem Studium der Details einen Überblick über das gesamte Thema verschaffen. Die Details können im Licht des Ganzen besser verstanden werden und tragen umgekehrt zu einem besseren Verständnis des Ganzen bei. Mit anderen Worten: Wir formulieren eine These, unterziehen sie einer Analyse und gelangen zu einer Synthese.
Man könnte von einer „Lernschleife“ sprechen, wie sie in dem folgenden Diagramm dargestellt ist.
Die vier Schritte
Die Vorbereitung eines Bibelstudiums umfasst vier Schritte:
1. Schritt Die Bibelstelle verstehen
2. Schritt Die Bibelstelle praktisch anwenden
3. Schritt Lehrziele festlegen
4. Schritt Das Studium „verpacken“
1. Schritt: Die Bibelstelle verstehen
Die folgenden Fragen sind eine Hilfe für dein Bemühen, den biblischen Text so zu verstehen, dass darauf dein Studium aufbauen kann. Wir halten uns zwar nicht immer strikt an die unten beschriebene Abfolge, wenn wir uns mit einem biblischen Text auseinander setzen, jedoch trägt sie wesentlich zur Analyse jenes Prozesses bei, der für das Studium der Bibel notwendig ist.
Der Überblick über ein gesamtes Buch
Wenn wir uns zuerst einen Überblick über jenes biblische Buch verschaffen, dem der Abschnitt entnommen ist, den wir studieren wollen, dann verringern wir das Risiko, Einzelaussagen aus dem Zusammenhang zu reißen. Gott gab uns Sein Wort in Form normaler menschlicher Texte. Ein bestimmter Teil des Textes muss immer im Licht der Gesamtaussage verstanden werden.
Beim Studium eines ganzen biblischen Buches können wir die folgenden Fragen stellen:
- Was sind die Hauptthemen?
- Welche Wörter oder Begriffe werden wiederholt?
- Was erfahre ich über den Autor und die Empfänger?
- Welchen Zweck verfolgt der Autor mit diesem Buch?
Der Überblick über die gewählte Stelle
Lies die Stelle mehrere Male durch:
- Was fällt auf?
- Was ist schwer zu verstehen?
- Welche Schlüsselwörter (wiederholte Begriffe) kommen vor?
- Welche konkreten Anweisungen sollen befolgt werden?
- Welche Warnungen sind zu beachten?
- Was erfahre ich über den Autor und die Empfänger?
- Wer sind die Hauptpersonen?
- Wann und wo findet die Handlung statt?
- Was sind auf den ersten Blick die Hauptgedanken in dieser Stelle?
„Fragenbombardment“
Bombardiere die Stelle mit möglichst vielen Fragen und beantworte diese Fragen. Versuche die Schwierigkeiten vorauszusehen, die deine Gruppe beim Studium der Stelle haben könnte.
- Welche Aussagen sind schwer zu verstehen?
- Gibt es Begriffe, deren Bedeutung unbekannt sein könnte?
- Warum hat der Autor auf diese Weise geschrieben?
Hintergrund
Welche Hintergrundinformationen (Geschichte, Politik, Geografie, Gebräuche) sind für das Verständnis der Stelle wichtig?
- Teilt uns die Stelle irgendwelche historische Einzelheiten mit?
- Bezieht sich die Stelle auf Gebräuche, die heute unbekannt sind?
- Gibt es unter diesen Hintergrundinformationen solche, die für ein Verständnis der Stelle wesentlich zu sein scheinen?
Der Gedankenfluss des Abschnitts
Wenn wir die Struktur und Abfolge eines Textes untersuchen, dann wird auch der Gedankenfluss des Autors erkennbar.
- Inwiefern trägt diese Stelle etwas zur Gesamtbotschaft und dem Ziel des Buches bei?
- Was ist der unmittelbare Zusammenhang?
- Wie lässt sich der Gedankenfluss dieser Stelle beschreiben?
- Verwendet der Autor
- wiederholte Wörter oder Ideen?
- Verbindungswörter wie und, aber, obwohl, wie viel mehr?
- kausale Satzverbindungen wie weil, so dass, deshalb, da, wenn … dann, damit?
- Zeitbegriffe (temporale Adverbien) wie jetzt, danach, dann, wann?
Die Stelle im biblischen Zusammenhang
Stell die folgenden Fragen, um die biblischen Zusammenhänge herzustellen, in deren Licht der von dir gewählte Text betrachtet werden kann.
- Wird die Stelle anderswo in der Bibel zitiert, oder zitiert sie selbst einen anderen biblischen Text?
- Um welche vorrangigen biblischen Themen geht es hier?
- Enthält die Stelle die Erfüllung von Verheißungen oder Verheißungen, die sich später erfüllen werden?
- In welchen Abschnitt des Heilsplanes Gottes passt diese Stelle hinein?
- Was sagt die Stelle darüber, wer Jesus ist und weshalb Er kam?
Hauptaussagen und unterstützende Aussagen
In dem von dir gewählten Bibeltext geht es vielleicht um eine ganze Reihe von Themen und Tatsachen, doch wenn wir versuchen, alles auf einmal zu lehren, dann überfordern wir unsere Hörer. Glücklicherweise lässt sich meist ein Hauptgedanke oder -thema feststellen, das der Autor behandelt, und die übrigen Themen haben einen Bezug zu dieser Hauptaussage. Die Ermittlung der Hauptaussage ist daher ein wichtiger Schritt.
- Hauptaussage: Was ist der Hauptinhalt dieser Stelle?
- unterstützende Aussagen: Wie untermauert der Autor die Hauptaussage?
2. Schritt: Die praktische Anwendung des Textes
Der Anwendung ausweichen
Bei der Anwendung einer Bibelstelle geht es um ihre Bedeutung für unser tägliches Leben und unser Verhalten. Jeder von uns hat an Bibelstudien teilgenommen, die sich in der „theologischen Stratosphäre“ abspielten und mit unserem täglichen Leben und Verhalten nichts zu tun hatten. Es ist bequemer, sich „über den Wolken“ aufzuhalten, und es tut weh, am Boden zu landen! Meist macht es einfach mehr Spaß, über den Wolken zu schweben und darüber zu spekulieren, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz finden.
In Bibelkreisen kommt es oft vor, dass wir uns mit einer Art Scheinanwendung dessen zufrieden geben, was besprochen wurde. Wir wissen zwar, dass die Anwendung nicht fehlen darf, aber wir begnügen uns häufig nur mit oberflächlichen Aussagen darüber, welchen Einfluss das Wort Gottes auf uns haben sollte. Beispiele dafür sind:
- die Anwendung als nachträglicher Einfall: ein rascher, zweiminütiger Nachtrag zur Diskussion in Form der Frage: „Was hat diese Stelle mit uns zu tun?“
- die Standardanwendung: Wir verwenden jedes Mal dieselben schuldbewussten Anwendungsfragen, ganz egal, worum es in der Stelle geht. Meist beziehen sich diese auf unser Gebetsleben, unser Bibellesen, unseren Einsatz bei der Verkündigung des Evangeliums und den Umgang mit unserer Zeit.
- statt Anwendung mit dem Finger zeigen: Wir gehen der Anwendung dadurch aus dem Weg, dass wir sagen: „Gott hat mir persönlich hier nicht viel gezeigt, aber ich wünschte mir, So-und-so hätte das gehört!“
Verschiedene Arten von Texten
Im Hinblick auf die Anwendung lassen sich zwei Kategorien von Bibeltexten unterscheiden:
- Stellen mit ausdrücklichen Befehlen für unseren Glauben und Gehorsam (z. B. die Sprüche, Teile der Evangelien und der Großteil der neutestamentlichen Briefe).
- Stellen ohne ausdrückliche Befehle, die jedoch das Wesen und die Absichten Gottes offenbaren (z. B. die geschichtlichen Bücher im Alten Testament, prophetische Bücher, Teile der Evangelien und die Apostelgeschichte). Wir wenden diese Texte an, indem wir uns dem Wesen Gottes und Seiner Zielsetzung im Hinblick auf unseren Glauben und Gehorsam unterordnen. Diese Form der Anwendung ist eher implizit als explizit, wie wir noch sehen werden.
Formen der Anwendung
- Anwendung durch Glauben: In vielen Bibeltexten geht es um unseren Glauben und unsere Überzeugung. Wir wenden diese Texte in der Form an, dass wir entweder unsere falschen Vorstellungen korrigieren oder uns in dem bestärken lassen, was wir bereits als wahr erkannt haben.
- Anwendung durch Verhalten: In etlichen Stellen geht es um unser Verhalten, unsere Gewohnheiten und Einstellungen. Wir wenden diese Stellen insofern an, als wir uns dort ändern, wo es notwendig ist.
Hier können wir allerdings den Fehler machen, dass wir Verhalten und Glaube voneinander trennen. Der christliche Glaube läuft immer auf ein geändertes Verhalten, veränderte Gewohnheiten und Einstellungen hinaus. Christliches Verhalten wiederum muss auf der richtigen Lehre beruhen. Der Glaube und das Verhalten gehen Hand in Hand, auch wenn wir beide Bereiche unterscheiden, um sicherzustellen, dass wir Bibeltexte nicht dadurch falsch interpretieren, dass wir sie unsachgemäß anwenden.
Verschiedene Möglichkeiten der Anwendung
Wenn wir die biblische Botschaft wirksam vermitteln wollen, müssen wir zwei Bereiche genau unterscheiden:
- den Text der Bibel
- das Umfeld der Teilnehmer
Um die Bibel auf unsere Gruppe anzuwenden, müssen wir sowohl die Teilnehmer als auch das Umfeld studieren, in dem sie als Christen leben. Das Wort Gottes spricht nicht nur die Gottesbeziehung jeder einzelnen Person an, sondern es richtet sich auch an das Umfeld: an die Gruppe, die Gemeinde oder Kirche und an die Gesellschaft mit ihren Werten und Überzeugungen.
Wir können daher eine Stelle auf vier verschiedenen Ebenen anwenden:
- auf den Einzelnen: Inwiefern fördert die Stelle seinen oder ihren Fortschritt beim Bibelverständnis, in der Beziehung zu Gott und im Dienst an anderen? Welche Umstände, Überzeugungen, Werte und Einstellungen in seinem oder ihrem Leben spricht diese Stelle an? Werden die Teilnehmer meiner Gruppe die Hauptaussagen und die unterstützenden Aussagen im Glauben akzeptieren?
- auf die Gruppe: Welche Änderungen in unseren Gruppenaktivitäten und gegenseitigen Beziehungen sollten wir im Licht des betreffenden Bibeltextes vornehmen?
- auf die Gemeinde oder Kirche: Welche Lehren, Praktiken, Traditionen, Prioritäten oder Einstellungen sind in unserer örtlichen Gemeinde oder Kirche mit diesem Teil des Wortes Gottes nicht vereinbar? Welche Lehren und Praktiken der Gemeinde oder Kirche im weiteren Sinn müssen im Licht des Bibeltextes als falsch betrachtet und korrigiert werden? Denke an den kirchlichen und konfessionellen Hintergrund der Teilnehmer und bringe die falschen Vorstellungen zur Sprache, mit denen sie unter Umständen aufgewachsen sind. Die Gegenüberstellung dieser Ideen mit den Aussagen der Bibel wird ihr Verständnis für das Evangelium vertiefen.
- auf die Welt: Inwiefern werden durch diesen Teil des Wortes Gottes die Wertvorstellungen, Überzeugungen und das Verhalten unserer Gesellschaft korrigiert? Welche sozialen, ethischen und intellektuellen Strömungen stehen im Widerspruch zu dieser Stelle?
Diese Anwendungsmöglichkeiten helfen uns, die Unverwechselbarkeit des Christentums zu verstehen.
3. Schritt: Lehrziele festlegen
Unsere Lehrziele ergeben sich aus den ersten beiden Schritten. Klare Lehrziele sind die Voraussetzung dafür, dass die Diskussion in Gang kommt und zu einem Ergebnis führt; sie schaffen die Basis für einen vierten Schritt, wo es darum geht, geeignete Diskussionsfragen zu formulieren.
Unsere Lehrziele betreffen sowohl das Verstehen als auch die Anwendung des Bibeltextes.
Lehrziel: Hauptaussage
Schreibe die Hauptaussage in Form eines klaren, einfachen Satzes auf.
Am Ende des Studiums sollen die Teilnehmer verstehen, dass …
Lehrziel: unterstützende Aussagen
Aus Zeitgründen wirst du nicht alle unterstützenden Aussagen besprechen können; wähle daher eine oder zwei aus, die für das Verständnis der Hauptaussage wesentlich sind. Schreibe die unterstützenden Aussagen auf, auf die du dich konzentrieren willst.
Am Ende des Studiums sollen die Teilnehmer verstehen, dass …
Lehrziel: Anwendung
Aus Zeitgründen wirst du auch nicht jede einzelne Anwendungs-möglichkeit besprechen können. Suche dir jene aus, die einen Bezug zur Hauptaussage haben. Schreibe in klaren, einfachen Sätzen die eine oder andere Änderung auf, die in Bezug auf Glauben oder Verhalten für deine Gruppe relevant ist.
Am Ende des Studiums sollen die Teilnehmer die folgenden Änderungen vornehmen: …
4. Schritt: Das Studium „verpacken“
In diesem kreativen Teil deiner Vorbereitung geht es darum, dass du Fragen formulierst, durch die die Teilnehmer die Aussagen und Anwendungs-möglichkeiten des Bibeltextes entdecken können.
Die Leitung eines guten Bibelstudiums lässt sich mit einem Weihnachts-geschenk vergleichen. Wir packen die Geschenke sorgfältig ein und bringen sie unseren Familienmitgliedern und Freunden. Diese freuen sich über die Schätze, die sie beim Auspacken entdecken. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem „Verpacken“ des Studiums, das der Gruppe die Möglichkeit gibt, gemeinsam die Schätze des Wortes Gottes „auszupacken“. Das Verpackungsmaterial sind deine Fragen; das Geschenk ist das Wort Gottes. Die Abfolge von Diskussionsfragen und Antworten erschließt die Bedeutung und die Anwendungsmöglichkeiten des Bibeltextes, und die Teilnehmer werden sich über ihre Entdeckungen freuen.
Fragen formulieren
Formuliere Fragen, die die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf die Hauptaussage, die unterstützenden Aussagen und die Anwendungs-möglichkeiten des betreffenden Bibeltextes lenken. Oft sind jene Fragen hilfreich, mit denen du dich bei der Vorbereitung auseinander gesetzt hast.
Zu den möglichen Kategorien von Fragen gehören:
- Beobachtungsfragen
Sie helfen der Gruppe, den grundlegenden Inhalt und die Struktur des Textes zu erkennen. Beobachtungsfragen sollten leicht zu beantworten sein. - Interpretationsfragen
Diese sind schwieriger zu beantworten, aber schon deshalb interessanter, weil sie bei den Teilnehmern „den Groschen fallen“ lassen. - Fragen nach dem größeren Zusammenhang
Dadurch wird gezeigt, welchen Bezug die betreffende Bibelstelle zu dem restlichen Buch bzw. zur gesamten Bibel hat. - Zusammenfassende Fragen
Diese Fragen schließen die Betrachtung der Stelle ab und führen die Teilnehmer zur Hauptaussage hin. Sie beleuchten außerdem die Struktur und den Gedankenfluss des Textes. - Anwendungsfragen
Diese Fragen regen die Teilnehmer dazu an, über die konkreten Glaubens- und Verhaltensschritte nachzudenken, die sich aus dem Bibeltext erschließen lassen.
Die Einstiegsfrage
Dieser letzte Schritt unserer Vorbereitung ist zugleich die erste Frage, die die Teilnehmer in die Diskussion gezielt einführen soll.
Eine gute Einstiegsfrage soll folgende Voraussetzungen erfüllen:
- relevant – eine Einführung in die Hauptaussagen oder Anwendungsmöglichkeiten, um die es geht.
- interessant – sie soll die Aufmerksamkeit und die Neugier der Teilnehmer wecken.
- einfach zu beantworten – sie soll die Teilnehmer zu „Experten“ machen, die von Anfang an zur Diskussion beitragen können.
- offen – mit mehreren möglichen Antworten.
Es gibt zwei Arten von Einstiegsfragen:
- Thematische Fragen zeigen die Themen auf, die mit dem Lehrziel zusammenhängen, indem sie auf ein Dilemma oder auf Meinungs-unterschiede hinweisen.
- Textbezogene Fragen heben eine bestimmte Aussage im Text hervor, die dazu angetan ist, die Botschaft des gesamten Textes zu erfassen.
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